Auszug aus einer längeren Erzählung

Sonntag, 6. Juni 2010

Ophelia

In einem obskuren Mitternachts-Chat bin ich einmal an eine Ophelia geraten. Sie ist eine längere Zeit allein in einem der Räume anwesend gemeldet gewesen und ich hatte sie angesprochen, weil die dumme, bohrende Unablässigkeit der anderen mich anödete. Sicher hatte sie keine Laubkränze im Haar und war auch keine tragische Gestalt des Wahnsinns, die zu der bekannten Wasserleiche würde um sich nicht unterwerfen zu müssen. Aber sehr wohl äußerte sie sich nach dem anfänglichen - einem oft ebenso rüden wie schüchternen wie auf sich dringenden - Geplänkel der in ihrer Suche dort Gestrandeten als liebeskrank. Wenn auch in anderen Worten. Aus denen mich gleichwohl etwas erreichte. Wenn das vielleicht auch nur die gerade noch denkbare Annäherung an eine Entsprechung zu der Unbegreiflichkeit meines eigenen, dort den Charakter einer Absonderlichkeit annehmenden Liebeswunsches war. Ihr wie mir, wie allen dort Verirrten, fehlte nur das Objekt.

Freimütig hatte sie mir von ihrer Grundeinsamkeit geredet, als auch ich ihr die Höflichkeit erwies, ihr das aufschneiderische, von Phantasien aufgepeitschte Zeug zu ersparen. Die Rückhaltlosigkeit im Elend kann ja oft von eigener Würde sein. Und mit dem dann aufblitzenden Humor und der Qualität der Einsichten ergeben sich manchmal bei ansonsten gegeneinander radikal Unverständigen schöne Einverständigkeiten. Noch in der menschlichen Schwärze, im gemeinsamen Horizont der Selbstverworfenen, ihrer Angst, vielleicht Liebe nicht zu verdienen, entsteht wiederum so etwas wie Gemeinschaft.

Schließlich musste sie mir aber doch von dem erzählen, was sie umtrieb. Und ich erführ die höchst merkwürdige Geschichte vom Wunsch nach der Untergebung an einen großen schwarzen Hund. Darauf wusste ich nichts zu erwidern. Und allein das Wissen um die Übertretung, die Situation des ernsteren Tabus, erhöhte den zwischen uns eben überwunden erspürten Abstand. Dazu war es wie das Eingeständnis eines Aberglaubens unter Atheisten. Doch, doch: Sie spiele schon länger mit dem Gedanken. Und es schien, es forderte diese meine Ungläubigkeit sie nun erst recht heraus, das Absonderliche dessen, was sie sich darin aber selber war, zu verteidigen: Zumindest diesem einen, der sich zu ihr hin verirrt hatte und ihr sein Ohr lieh. Unversehens geht es in solchen Momenten manchmal um alles.

Ruhe, Tonfall, Abgeklärtheit - die Vernunft, die in ihren Worten lag, all das deutete für mich auf eine schon etwas ältere Frau, mochte sie auch nicht viel mehr Einzelheiten über sich verraten. Sie glaubte nicht daran, für sich noch einen Mann zu finden, schon gar keinen, der überhaupt einmal in Reichweite solcher endlich für sich erhofften Erfüllungen kam.

Die Einzelheiten dieser Phantasie jedenfalls waren dann so bizarr, dass ich das gleichfalls für unmöglich hielt - das eine wie das andere -, und es verkehrte sich ein weiteres Mal: Eben dieses Unüberwindliche der Phantasie dieser Frau war es nun, dass sie auch wieder rechtfertigte, mich nun also gewissermaßen durch Unwahrscheinlichkeit überzeugte. credo quia absurdum. Damit, wie Tiere Menschen Anschluss an ihr Innerstes erlauben, mit der mythischen Verbindung zwischen Mädchen und Märchen, mit dem treu-lieben Hund und dem reißerischen Wolf, mit der zwischen dem erhofft Grausamen und der Beschmutzten in dem reinweißen Kleide war das sicher alles nicht erklärt - das wären Beschönigungen. Es ging um Niederwerfung, um Beschmutzung, darum, im Verworfensten des eigenen Selbsts zu einer euphorischen Lösung zu kommen. Vielleicht hatte sie sich damit auch endlich einmal gegenüber jemandem eröffnen wollen, zumindest den Abstand verringern, den es ihr selber als ihre größte Abgründigkeit längst nicht mehr bedeutete.

Es war das eine dieser Begegnungen, wie sie heute jederzeit auch möglich sind, anonym, flüchtig, wahrhaftig. Danach hatte ich mich für eine Zeit lang mit der Annahme zu beruhigen versucht, jemand habe sich einen Scherz gemacht, aber damit hinterging - und unterbot - ich mich sofort selbst. Ich lernte es nach und nach zu akzeptieren als Menschenmöglichkeit, als eine, auf die ich selber nicht hätte verfallen können, die mir aber sogar als Unzugänglichkeit noch etwas über mich sagte. Nur was? Vielleicht hatte das nur als Antwortlosigkeit, die auf meine eigene antwortete, einen solchen nachhaltigen Eindruck in mir hinterlassen.

Der Server, der in einer gewissen Szene eine Zeit lang ein bisschen Furore gemacht hatte, weil dort, als Neosexualitäten (die zugleich wohl uralt sind), diese Verirrten zu sich und zusammen hatten kommen können, war irgendwann abgeschaltet worden. Jemand hatte diese Sache dort am Rande einer ars electronica für sich zu einem Kunst-/Theorie-Ding umstricken wollen und sie so publik gemacht. Schneller als das teilblinde, oft so hilflose, dabei notorisch verspätete Gesetz auf seine Weise darauf hätte reagieren können, hatten - über solcherart unwillkommene Werbung - dann aber vielleicht auch die Betreiber eingesehen, wie jene Grauzonen aus schwarzen Dingen der Liebe, wie die uns alle verlebendigenden Verrücktheiten zuletzt sich nicht kommerziell würden ausschlachten lassen: Sie werfen, statt plump per Produktabfall zu erweiternder Gewissheiten, zu viele Fragen auf. Ich hörte dann auch nur gelegenheitshalber noch einmal davon. Immerhin muss auch etwas Wahrhaftiges dran gewesen sein, an dem da gefeierten Schmutz. Und für mich war diese Ophelia zu seiner mindest-annehmbaren Hüterin geworden.

 

Links

visitor counter


Auszug aus einer längeren Erzählung
Maschinentexte
Maschinenübersetzungen
Textmassen
Übersetzungen
Profil
Abmelden
Weblog abonnieren